Gert Westphal

Gert Westphal, der Sprecher, Rezitator und Schauspieler, starb im Alter von 82 Jahren

Die Stimme der Klassiker

Gert Westphal | Buddenbrooks»Auch das Radio schaffte es manchmal zum Straßenfeger. 1963 las Westphal im Norddeutschen Rundfunk an 28 Abenden Thomas Manns Joseph und seine Brüder. Der Erfolg war enorm, der Verlag musste nachdrucken und Gert Westphal – engagiert am Züricher Schauspielhaus – hatte seinen Beruf und seine eigentliche Berufung gefunden: Lange bevor das Hörbuch zum Leseersatz wurde, machte er den zu Gehör gebrachten Roman zu einer eigenen Gattung, die vor allem einen Namen hatte, den seinen. In den folgenden Jahren las Westphal nicht nur Thomas Mann, sondern auch Johann Wolfgang von Goethe, Hermann Hesse, Gustave Flaubert, Heinrich Heine, Karl May, Theodor Fontane und belebte so einen guten Teil der deutschen Klassik für ein breites Publikum. Wie seine Stimme einerseits nüchtern-prosaisch, andererseits psalmodiernd und modulierend den Text umspielte, wie er die Satzteile vorsichtig ineinanderbog und umsichtig dehnte oder raffte, wie sein Sprechen so das Weiche und das Raue versöhnte, dass man an großen Rotwein dachte, ließ nur einen Schluss zu: Seine Stimme nahm den Klang auf, den die großen Texte für Generationen deutscher Leser gehabt hatten, und brachte ihn in gültige Form. Von nun an schien es, als hätte Thomas Mann genau so geschrieben, wie Westphal ihn vorlas: König der Vorleser, Dichters oberster Mund und Vorleser der Nation wurde er genannt.

1920 in Dresden als Sohn eines Fabrikdirektors geboren, schlug Westphal zielstrebig eine Schauspielkarriere ein und war neben Zürich an vielen Bühnen engagiert. 1980 wurde er endgültig zum Freiberufler und reiste lesend durch das Land.

Mindestens eine Generation von Zuhörern wurde durch Westphal zum Lesen verführt. Als er seine zweite Karriere als Vorleser begann, war das gelesene Buch noch nicht Leseersatz sondern Lektüreansporn. Er wolle zu den Büchern hinführen, hatte er immer wieder gesagt. Heute hat Westphal ungezählte Nachfolger gefunden und das Hörbuch steht für sich. Aber alle gehen in seinen Spuren und müssen sich an ihm messen lassen. Am Sonntag ist Gert Westphal 82jährig in Hamburg verstorben« (Peter Michalzik, in: Frankfurter Rundschau 12.11.2002).

Fülle des Wohllauts

Der Rezitator Gert Westphal ist 82-jährig gestorben.

»Eine Stimme ist erloschen, die das geschriebene Wort erlebbar, spürbar, fühlbar machte: Der Rezitator Gert Westphal ist am Sonntagabend mit 82 Jahren in Zürich gestorben. Vorleser der Nation haben ihn jene genannt, die seine hohe Kunst mit einem profanen Etikett versehen wollten.

Aber er war weitaus mehr als ein Gedichteaufsager oder Märchenonkel. Der gebürtige Dresdner, der 1946 seine ersten Hörspielrollen gestaltete und zudem eine glanzvolle Theaterkarriere machte, war von Literatur durchdrungen. Er durchmaß mit seinem vollen Bariton Lyrik wie Prosa und konnte wie kein anderer die gesamte Bandbreite des menschlichen Seelenlebens akustisch ausloten: Sein ausdrucksstarkes und modulationsreiches Organ drückte Zorn und Freude, Trauer und Wut, Liebe und Verachtung, Hoffen und Verzweifeln, Naivität und Intrige, Bestürzung und Wollust, Lebensfreude und Entsetzen aus. Die gebundene Sprache der Klassiker klang bei ihm gleichermaßen lebendig wie die Satzfetzen moderner Schriftsteller. Die tief fühlenden Poeten waren bei ihm ebenso gut aufgehoben wie die journalistisch formulierenden Beobachter und fantasievollen Wortklauber.

Von seinen drei Lieblingsautoren – Goethe, Theodor Fontane, Thomas Mann – hat er bei Vortragsabenden, im Rundfunk und im Plattenstudio nahezu das gesamte erzählerische Werk interpretiert: immer akkurat, immer hingebungsvoll im Dienst der Sprache und niemals die Imagination seiner Zuhörer dominierend. Hunderte von Hörbüchern, denen er mit sonor-wandlungsfähiger Stimme und faszinierendem Rhythmus seine Prägung aufdrückte, bewahren das Erbe eines Mannes, der dem Geschriebenen zur Fülle des Wohllauts verhalf« (rik) RON – RHEINPFALZ ONLINE, Dienstag, 12. Nov , 03:45 Uhr.

Der König der Vorleser

Nachruf: Gert Westphal starb 82-jährig in Zürich

»Er brachte die Literatur zum Klingen. Und die Fülle dessen, was er las, einfühlsam aber auch bildhaft und lebendig, lässt sich nur noch in Tagen, Wochen oder Monaten messen. Jetzt ist der Schauspieler und Sprecher Gert Westphal, der Vorleser der Nation, wie er oft genannt wurde, im Alter von 82 Jahren in einer Züricher Klinik an Krebs gestorben.

Seine Aufgabe als Sprachkünstler sah er vor allem darin, den Menschen teilnehmen zu lassen, ihm völlig unsentimental die Welt des Theaters und der Literatur mit einer zärtlichen Leidenschaft so zu vermitteln, dass die Figuren in all ihren Widersprüchen, aber auch, in ihrer Komik begreifbar werden. Dass Trauer Einsichten provozieren kann, war Westphal ebenso selbstverständlich wie die Vorstellung, dass in fast jeder tragischen Situation eine winzige Lächerlichkeit enthalten ist.

Auf diese Weise rückte er uns die literarischen Figuren nahe, ohne, sie uns auszuliefern. Denn Distanz konnte Westphal selbst dann halten, wenn er mit Worten die Einsamkeit eines Gert Westphal Menschen in einer zart gezeichneten Skizze wunderschön beschrieb.

Der Literaturkritiker Marcel Reich-Ranicki würdigte Westphal als wahrscheinlich besten Rezitator in deutscher Sprache. Am besten sei er gewesen beim Lesen der Texte Theodor Fontanes und Thomas Manns: Auf dem Gebiet war er unschlagbar, sagte Reich-Ranicki. Seine Rezitation sei in des Wortes eigentlicher Bedeutung eine Interpretation gewesen: Er hat lesend die Texte auf unaufdringliche Weise kommentiert.

Der aus Dresden stammende Westphal, der seit den 60er Jahren in der Schweiz lebte, hat ein einzigartiges Vorlese-Repertoire geschaffen. Mit seiner unverwechselbaren Stimme und seiner Interpretationsfähigkeit nahm er mehr als 200 Texte der Weltliteratur auf, seine große Liebe galt vor allem Thomas Mann. Die Bandbreite seiner Rundfunklesungen und Plattenaufnahmen sucht ihresgleichen: Ob Theodor Fontane, Johann Wolfgang von Goethe, Heinrich Heine, Herrmann Hesse oder eben Mann – Dichters oberster Mund (Katja Mann) las sie alle. Als König der Vorleser bezeichnete die Zeit einst den beliebten Sprecher, seine Vortragskunst nannte sie ein akustisches Ein-Mann-Theater.

Westphal stand auch auf zahlreichen bedeutenden Theaterbühnen des deutschsprachigen Raumes. Mehr als 20 Jahre gehörte er dem Ensemble des, Züricher Schauspielhauses an, wo er große Rollen der Klassik und Moderne spielte. 1980 wurde Westphal freiberuflich, tätig, arbeitete viele Jahre lang mit dem Tournee-Theater Greve zusammen und inszenierte unter anderem eine eigene Bühnenfassung von, Franz Kafkas Der Prozess. Er führte Regie in Bern, Düsseldorf, Braunschweig und Nürnberg. Im Mannheimer Nationaltheater inszenierte er 1975 Bruno Franks Sturm im Wasserglas und ein Jahr später Cimarlosas Oper Bräutigam ohne Braut.

Seinen Ruhm hatte Westphal aber vor allem der außergewöhnlichen Wirkung seiner volltönenden Stimme zu verdanken. Zum vielbeachteten Vorleser war er bereits 1963 geworden: An 28 Abenden hatte er damals im Norddeutschen Rundfunk (NDR) Thomas Manns Josefsromane vorgetragen. Der Erfolg war so groß, dass der Verlag auf die dringende Bitte der Buchhändler hin eine preiswerte, Buchausgabe auf den Markt brachte. Ein Mann, der zur Stimme wurde. Und eine Stimme, die niemals langweilig wird, würdigte die ›FAZ‹ einst den Sprecher« Mannheimer Morgen – (dpa/hub).

Trauer um Gert Westphal

Auf seinem Gebiet war er unschlagbar

»Der Schauspieler und Sprecher Gert Westphal ist im Alter von 82 Jahren gestorben.

Mit seiner markanten Stimme trug er mehr als 200 Texte der Weltliteratur vor und wurde dadurch selbst berühmt. Der Literaturkritiker Marcel Reich-Ranicki würdigte den Vorleser der Nation als besten Rezitator in deutscher Sprache.

Hamburg – Gert Westphal starb nach Angaben der Plattenfirma Deutsche Grammophon am Sonntag im Alter von 82 Jahren in einer Zürcher Klinik an Krebs.

Der aus Dresden stammende Westphal, der seit den sechziger Jahren in der Nähe von Zürich lebte, hat ein einzigartiges Vorlese-Repertoire geschaffen. Mit seiner unverwechselbaren Stimme und seiner Interpretationsfähigkeit nahm er mehr als 200 Texte der Weltliteratur auf, seine große Liebe galt vor allem dem Schriftsteller Thomas Mann. Noch im hohen Alter reiste Westphal von Lesung zu Lesung durch das Land.

Die Palette seiner zahlreichen Rundfunk-Lesungen und Plattenaufnahmen sucht ihresgleichen: Ob Theodor Fontane, Johann Wolfgang von Goethe, Heinrich Heine, Hermann Hesse oder eben Mann – Dichters oberster Mund (Katja Mann) las sie alle. Als König der Vorleser bezeichnete die Zeit einst den beliebten Sprecher, seine Vortragskunst nannte sie ein akustisches Ein-Mann-Theater.

Westphal spielte auch auf zahlreichen bedeutenden Theaterbühnen des deutschsprachigen Raumes. Mehr als 20 Jahre gehörte er dem Ensemble des Züricher Schauspielhauses an, wo er große Rollen der Klassik und Moderne interpretierte. 1980 wurde Westphal freiberuflich tätig, arbeitete viele Jahre lang mit dem Tournee-Theater Greve zusammen und inszenierte unter anderem eine eigene Bühnenfassung von Franz Kafkas Der Prozeß. Auch an den Opernhäusern in Bern, Mannheim, Düsseldorf, Braunschweig und Nürnberg führte Westphal Regie. Als Schauspieler wirkte er unter anderem bei den Salzburger Festspielen mit.

Seinen Ruhm hatte Westphal aber vor allem der außergewöhnlichen Wirkung seiner volltönenden Stimme zu verdanken. Zum vielbeachteten Vorleser war er bereits 1963 geworden: An 28 Abenden hatte er damals im Norddeutschen Rundfunk (NDR) Thomas Manns Josefsromane vorgetragen. Der Erfolg war so groß, dass der Verlag auf die dringende Bitte der Buchhändler hin eine preiswerte Buchausgabe der vier Bände auf den Markt brachte. Ein Mann, der zur Stimme wurde. Und eine Stimme, die niemals langweilig wird, würdigte die FAZ einst den Sprecher.

Der Frankfurter Literaturkritiker Marcel Reich-Ranicki bezeichnete Westphal am Montag als wahrscheinlich besten Rezitator in deutscher Sprache. Am besten sei er gewesen beim Lesen der Texte Theodor Fontanes und Thomas Manns: Auf dem Gebiet war er unschlagbar, sagte er. Seine Rezitation sei in des Wortes eigentlicher Bedeutung eine Interpretation gewesen: Er hat lesend die Texte auf unaufdringliche Weise kommentiert« SPIEGEL ONLINE, 11. November 2002, 15:19 Uhr.

Die Stimme – ein ganzes Theater

Tief ist der Brunnen der Vorlesezeit: Zum Tod von Gert Westphal.

»Ach, Pierre … Es ist nur wie ein verzweifeltes Luftholen – aber sozusagen von ätherisch schärfster Luft, durchflirrt wie von mikroskopisch kleinen Eiskristallen, die in die Lunge und die Seele der jungen Frau schneiden, die da ihren älteren Mann mit einem Ach schon um lange nichts mehr bittet. Außer hie und da um ein Quentchen Schmerzensodem. Wenn Gert Westphal diese Stelle aus Theodor Fontanes Roman Cécile vorlas, wenn er das Ach wie nebenbei im Pierre verschwinden und verwehen ließ, als seien die Pierre-Vokale und Konsonanten gleichgültig nebeneinander gemauerte Pfeiler, durch die ein Seufzer hindurchgehen kann, ohne daß er einen Stein erweichte – dann sah man in den zwei Worten vor sich: einen blassen, kranken, lebensmatten Frauenteint, auf dem sich eine ganze Ehe- und Lieblosigkeitskatastrophe abspielt. Aber nur so nebenbei. Als lägen dem Vorleser das Gesicht dieser Frau und der kaltlederne Ladestockgatte neben ihr im Eisenbahncoupé (Zweiter, Thale) und auch die Trübnis des Tages und die Leere des Lebens wie selbstverständlich szenisch auf der Zunge.

Diese Zunge, eine der nuancenbegnadetsten in deutschen Landen, war Gert Westphals Bühne. Wenn das dumme, unsinnliche Wort vom Sprechtheater einmal einen sinnlichen Sinn gehabt haben könnte, dann bei ihm. Der 1920 in Dresden geborene Schauspieler, der nach dem Krieg die Tour von Bremen, Hamburg, Stuttgart bis nach Zürich machte, war auf der Bühne zwar ein eleganter, aber wenig mehr als wackerer Mime. Zum wahren Theatraliker wurde er immer erst, wenn er sich als Erscheinung ausblendete und ganz und gar nur zur Stimme wurde.

Wenn er, den die Etikettensüchtigen den Vorleser der Nation nannten, auf Band und Platte oder im Rundfunk stundenlang laut las, dann wurde all das, was der Mime Westphal nie herzustellen vermochte, sofort zu einem sinnlichen Gesamtkunstwerk aus Bildern, Szenen, Charakteren, möglichen und unmöglichen Menschen. Wenn er tief hinab stieg in den Brunnen der Vorlesezeit und dort das Schönste hervorholte, dann wurde aus altem Papier: gegenwärtiges Leben. Wer hören wollte, mußte es fühlen.

Er war als Stimmeninszenator ein Welttheaterregisseur. So inszenierte er die fragilen, auf Gesellschafts-, Gefühls- und Untergangsmarmorklippen wundersam robust taumelnden Welten der Bürger mit seiner weichen, sonoren, herrlich schmieg- und biegsamen Herrenbaritonstimme. Das stimmbildnerische Westphalsche Welttheater, angefangen von den Provinztollhäusern der Buddenbrooks oder des Stechlin, über Bennsche und Heinesche Requisitennischen bis hin zu den Kammergiftspielen der Madame Bovary oder dem Krankenfestspielhaus des Zauberbergs und dem ironischen Orgien- und Hysterienstaatstheater des Joseph, wird als Konserve weiterleben, hat aber seinen Chefregisseur und Hauptschauspieler verloren. Er ist jetzt im Alter von zweiundachtzig Jahren in Zürich gestorben.« (Gerhard Stadelmaier, in: FAZ vom 12.11.2002, Nr. 263 / Seite 37).

Dies ist meine Zigarrenkiste und mein Mikrofon

Die Stimme war berühmter als der Mann, dem sie gehörte: Zum Tod von Gert Westphal

»Zum Bild, das die Nachwelt vom 19. Jahrhundert in sich trägt, hat entscheidend beigetragen, dass es das erste Jahrhundert mit einer fotographischen Überlieferung war. Die akustischen Aufzeichnungsmedien waren um 1900 zwar bereits geboren, aber erst das zwanzigste Jahrhundert fügte den Bildarchiven das Schallarchiv, dem visuellen das audiovisuelle Dokument hinzu. Die Stimmen der Dichter und Rezitatoren gehörten zu den ersten, die aufgezeichnet wurden. Sie waren noch von der Bühne geformt. Durchs Rauschen hindurch können wir als Raum, auf den sie ausgerichtet sind, das Theater und den Konzertsaal hören. Das gibt ihnen ihr ferngerücktes Pathos.

Gert Westphal, geboren 1920 in Dresden, hat sich das Lesen früh selbst beigebracht. Im großbürgerlichen Elternhaus wuchs er in eine Zeit hinein, die in Kultur wie Politik vom Aufstieg des Rundfunks geprägt war. Dem Kind bastelte der Bruder aus Draht, Silberpapier und Zigarrenkiste eine Art Mikrofon. Mit 14 durfte der Junge beim Jugendfunk der Sendestelle Dresden mitmachen. Dann erst kam der Schauspielunterricht.

Im Weltkrieg mehrfach verwundet, erhielt er nach 1945 sein erstes Engagement an den Bremer Kammerspielen. Von 1959 bis 1980 gehörte er dem Ensemble des Zürcher Schauspielhauses an. Aber nicht aus dem Schauspieler wuchs der König der Vorleser, sondern aus dem Rundfunkmann: dem Leiter der Hörspielabteilung bei Radio Bremen ab 1948, von 1953 bis 1959 beim Südwestfunk in Baden-Baden. Die Hörspiele des Filmregisseurs Max Ophüls, darunter Goethes ‚Novelle‘, zählten zu den entscheidenden Anregungen.

In zahllosen Rundfunkproduktionen legte Westphal den Grundstein seiner Karriere als Vorleser. Ihr Durchbruch ist datierbar: die Lesung der Josefsromane von Thomas Mann an insgesamt 28 Abenden im Norddeutschen Rundfunk 1963, unter dem Intendanten Ernst Schnabel.

Westphal hat in der von Ernst-Joachim Behrendt lancierten Fusion von Jazz und Lyrik mit Benn und Heine erfolgreich auf der Bühne bestanden. Entscheidend für seine Karriere aber war die Modernisierung der alten Figur des Rezitators aus dem Geist des Tonstudios. Hier entwuchs die isolierte, vom Körper getrennte Stimme dem Status der Nachträglichkeit, der Aufzeichnung leibhaftiger Lesungen. Hier wurde sie zum eigenständigen Instrument der Inszenierung von Literatur. Der aktuelle Hörbuch-Boom zehrt nicht zuletzt von den Schallarchiven der Rundfunkanstalten.

Die Vorleser der klassisch-romantischen Epoche, allen voran Ludwig Tieck, waren Dramenvorleser, die Heroen des neopathetischen Kabaretts im frühen 20. Jahrhundert Lyriker. Gert Westphal hat ins Zentrum seines Werks die Prosa gestellt, die große Erzählliteratur der bürgerlichen Epoche mit dem Dreiklang Goethe-Fontane-Thomas Mann. Seine Stimme fächerte ein Panorama von Figuren zwischen Wilhelm Meister und Pastor Krippenstapel auf, gab jeder eine eigene akustische Physiognomie, balancierte mal gemächlich, mal tänzelnd über den Periodenbau der Prosaisten und scheute nur vor Jean Paul zurück. Diese Stimme war am Ende berühmter als der Name dessen, dem sie gehörte. Nun ist Gert Westphal im Alter von 82 Jahren in Zürich gestorben« Lothar Müller (Süddeutsche Zeitung, 12.11.02).

Gert Westphal ist tot

Ein Nachruf von Jörg-Dieter Kogel

»Der Schauspieler und ehemalige Hörspielchef von Radio Bremen, Gert Westphal, ist am Sonntag im Alter von 82 Jahren gestorben. Radio Bremen-Intendant Dr. Heinz Glässgen würdigte den renommierten Sprecher mit den Worten: Es sind Stimmen, die den Rundfunk ausmachen und sein Gesicht prägen. Gert Westphal war eine solche Stimme. Er gehörte zu denen, die Radio Bremen ganz wesentlich zu seinem Profil verholfen haben.

1946 begann er in Bremen mit ersten Hörspielrollen. 1948 wurde er Oberspielleiter und Leiter der Hörspielabteilung von Radio Bremen. Unzähligen Autoren hat er den Weg zum Rundfunk geebnet, Schauspieler-Kollegen für das Medium gewonnen. Seine Hörspiel-Inszenierungen sind Bestandteil des Repertoires bis heute. Ohne diese Arbeit, ohne ihn, den König der Vorleser, wäre das Kulturradio in Deutschland ärmer.

Gert Westphal wurde am 5. Oktober 1920 in Dresden als Sohn eines Fabrikanten geboren. Nach einer Schauspieler-Ausbildung am Dresdner Konservatorium und dem Kriegsdienst erhielt er 1945 sein erstes Engagement an den Bremer Kammerspielen. Bereits 1946 begann er eine zweite Karriere im Rundfunk als Hörspiel-Sprecher bei Radio Bremen. Noch intensiver widmete er sich der Rundfunkarbeit ab 1948, als er zum Oberspielleiter und Chef der Hörspielabteilung von Radio Bremen avancierte.

1953 wechselte Gert Westphal zum Südwestfunk in Baden-Baden, wo er bis 1959 die Hörspielabteilung leitete und zeitweilig auch Chefregisseur der Fernsehspielabteilung war. Zum Theater kehrte er 1959 zurück als Ensemble-Mitglied des Züricher Schauspielhauses, dem er bis 1980 angehörte. Seitdem ist er freiberuflich als Schauspieler und Regisseur tätig gewesen, vor allem aber als Rezitator auf der Bühne und im Rundfunk, auf Schallplatte und CD.

Im Jahr 1984 bezeichnete ihn die ZEIT als König der Vorleser und qualifizierte seine Vortragskunst als virtuose Inszenierung eines akustischen Ein-Mann-Theaters. Tatsächlich hat sich Gert Westphal in vier Jahrzehnten ein Vorlese-Repertoire geschaffen, das seinesgleichen sucht, reicht es doch von Vergils Georgica bis zu Karl Mays Schatz im Silbersee. Und immer wieder hat er seinen drei Lieblingsautoren die Reverenz erwiesen: Johann Wolfgang von Goethe, Theodor Fontane und Thomas Mann. Die Romane von Thomas Mann hatte er mit einer Ausnahme bereits für den Rundfunk gelesen. Zur Vervollständigung seines Thomas-Mann-Zyklus hatte Gert Westphal im Januar 2001 bei Radio Bremen die bisher noch fehlende Lesung der Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull aufgenommen« (Jörg-Dieter Kogel).

Der Schauspieler und Sprecher Gert Westphal ist tot

Ein Nachruf von dpa/jöt

»Der Vorleser der Nation, wie Westphal auch genannt wurde, starb nach Angaben der Plattenfirma Deutsche Grammophon in Hamburg am Sonntag im Alter von 82 Jahren an Krebs.

Westphal stammte aus Dresden. Seit den 60er Jahren lebte er in der Schweiz. Westphal hinterlässt ein einzigartiges Vorlese-Repertoire. Mit seiner unverwechselbaren Stimme nahm er mehr als 200 Texte der Weltliteratur auf, seine große Liebe galt vor allem Thomas Mann.

Ein erstes Engagement als Schauspieler erhielt Westphal nach dem Zweiten Weltkrieg an den Bremer Kammerspielen. 1948 ging er als Oberspielleiter zu Radio Bremen und leitete die dortige Hörspielabteilung. Von 1953 bis Anfang 1959 arbeitete er beim Südwestfunk (SWF) in Baden-Baden. Zuerst war er Leiter der Hörspielabteilung, später auch Chefregisseur der Fernsehspielabteilung. Arbeit mit Ophüls.

Den entscheidenden Impuls für seine Arbeit als Stimm-Schauspieler und Regisseur erhielt Westphal durch die Begegnung mit Filmregisseur Max Ophüls. Dieser inszenierte für den SWF mit Goethes Novelle und Schnitzlers Berta Garlan jene epische Hörspielform, die stilbildend wurde für Westphals weitere Arbeit.

Als des Dichters oberster Mund, wie Katja Mann Westphal einmal nannte, las er im Rundfunk und auf Schallplatte, bei öffentlichen Vortragsabenden und im privaten Kreis« dpa/jöt vom 11. November 2002.